 
          Wie kann Achtsamkeit bei der Bewäl-
        
        
          tigung von Alltagssituationen helfen?
        
        
          Ich wurde kürzlich mit dem Auto
        
        
          geblitzt, weil ich zu schnell gefahren
        
        
          bin. Als ich bemerkte, dass ich mich
        
        
          ärgerte, habe ich versucht, das, was
        
        
          passiert ist, zu akzeptieren. An der
        
        
          Situation konnte ich ja nichts mehr
        
        
          ändern, und billiger wird es auch
        
        
          nicht, wenn man sich noch stunden-
        
        
          lang grämt. Ein Ziel der Achtsam-
        
        
          keit ist also, hilfreichere Wege zu
        
        
          finden, wie man mit etwas umgehen
        
        
          kann. Kurz formuliert geht es dar-
        
        
          um, Angenehmes loszulassen und
        
        
          Unangenehmes zu akzeptieren. Das
        
        
          klingt erst einmal paradox. Aber es
        
        
          zeigt sich, dass wir Menschen sehr
        
        
          oft Vorstellungen davon haben, wie
        
        
          etwas sein soll, und wenn es dann so
        
        
          ist, befriedigt es uns doch nicht oder
        
        
          nur sehr kurzfristig. Die Dinge so
        
        
          zu akzeptieren, wie sie gerade sind,
        
        
          bringt Zufriedenheit.
        
        
          Das klingt einfach, aber funktioniert
        
        
          das bei jedem?
        
        
          Man kann es erlernen, es ist eine
        
        
          Übung. Einen Zugang bietet das
        
        
          Achtsamkeitsprogramm „Mind-
        
        
          fulness-Based Stress Reduction“
        
        
          (MBSR), das vielfach angeboten
        
        
          wird. Es kann einen ersten Einstieg
        
        
          zum Umgang mit belastenden Situ-
        
        
          ationen bieten. Während des Kur-
        
        
          ses werden verschiedene Medita-
        
        
          tionstechniken erlernt. Ziel ist es,
        
        
          die achtsame Grundhaltung in der
        
        
          Meditation zu üben
        
        
          und dann in den
        
        
          Alltag zu übertra-
        
        
          gen. Achtsamkeit
        
        
          ist ein permanenter
        
        
          Übungsweg
        
        
          und
        
        
          ein ständiges Be-
        
        
          wusstmachen von
        
        
          „was bewirkt was
        
        
          bei mir“. Im Ide-
        
        
          alfall sollte jeden
        
        
          Tag
        
        
          mindestens
        
        
          20 Minuten geübt
        
        
          beziehungsweise meditiert werden.
        
        
          Natürlich muss man eine Grundof-
        
        
          fenheit dem Prinzip gegenüber mit-
        
        
          bringen.
        
        
          Wie kann der Erfolg von Achtsam-
        
        
          keitstraining gemessen werden?
        
        
          Man kann Teilnehmer an Acht-
        
        
          samkeitstraining nach ihrem Stress
        
        
          und psychischen Befinden befragen
        
        
          und dies mit einer Kontrollgruppe
        
        
          vergleichen. Es kommen aber auch
        
        
          die Elektroenzephalografie (EEG)
        
        
          genannte Hirnstrommessung oder
        
        
          bildgebende Verfahren zum Einsatz.
        
        
          Achtsamkeit wird neurobiologisch
        
        
          und neurophysiologisch wirksam
        
        
          und sichtbar. Solche Messungen ver-
        
        
          leihen dem Achtsamkeitstraining
        
        
          mehr Glaubwürdigkeit, was wichtig
        
        
          ist, damit das Prinzip nicht belächelt
        
        
          wird – was viele gerne tun. Das Ge-
        
        
          hirn ist wie ein Muskel, an dem man
        
        
          Trainingserfolge sehen kann, also
        
        
          auch die Effekte von Achtsamkeits-
        
        
          meditation.
        
        
          Wie funktioniert Achtsamkeit im wis-
        
        
          senschaftlichen Kontext?
        
        
          Wir konzentrieren uns zur Zeit
        
        
          darauf, wie durch Achtsamkeit Pa-
        
        
          tienten mit chronischen Schmerzen
        
        
          geholfen werden kann. In den Pro-
        
        
          grammen lernen die Patienten vor al-
        
        
          lem, wie sie mit Stress und den Folgen
        
        
          von chronischen Schmerzen besser
        
        
          umgehen können. Wir können durch
        
        
          Achtsamkeitspraxis den Schmerz
        
        
          selbst nur zum Teil reduzieren. Wich-
        
        
          tiger ist aber, das aus dem Schmerz
        
        
          resultierende Leiden, zum Beispiel
        
        
          Verzweiflung, Angst und Depressi-
        
        
          on, zu bewältigen. Die Frage ist, wie
        
        
          kann ich imAlltag mit meiner Krank-
        
        
          heit umgehen und trotzdem glück-
        
        
          lich sein? Aber wir arbeiten auch an
        
        
          einem Achtsamkeitsprogramm für
        
        
          Behandler, also Ärzte und Pflegende.
        
        
          Auch hier ist entscheidend, mit wel-
        
        
          cher Haltung sie den Patienten be-
        
        
          gegnen, es muss eine positive, heilsa-
        
        
          me Haltung sein – eine den Patienten
        
        
          zugewandte Haltung.
        
        
          Herr Professor Schmidt, was ist Acht-
        
        
          samkeit?
        
        
          Achtsamkeit ist etwas, das man
        
        
          erfährt, erlebt und praktiziert, des-
        
        
          wegen ist es schwierig, darüber zu
        
        
          sprechen. Über verliebt sein zu re-
        
        
          den, ist ähnlich. Achtsamkeit ist
        
        
          eine bestimmte Grundhaltung, mit
        
        
          der ich dem gesamten Leben und
        
        
          damit auch mir selbst gegenübertre-
        
        
          te. Diese Haltung ist geprägt davon,
        
        
          dass ich mir bewusst bin, was gera-
        
        
          de geschieht und was ich gerade tue.
        
        
          Das wird oft mit „im Hier und Jetzt
        
        
          sein“ beschrieben. Dazu kommt, dass
        
        
          man versucht, sich einer Wertung zu
        
        
          enthalten und an alle Handlungen
        
        
          und Erlebnisse mit einer offenen und
        
        
          neugierigen Haltung herantritt. Das
        
        
          hat auch viel mit einer unvoreinge-
        
        
          nommenen Selbstbeobachtung zu
        
        
          tun. Durch Achtsamkeit kann ich
        
        
          dann erkennen, was eine förderliche
        
        
          Selbsthaltung für mich ist, durch die
        
        
          ich Leid, Stress und Schmerzenmini-
        
        
          mieren kann.
        
        
          Können Sie ein Beispiel für das Sich-
        
        
          Selbst-Beobachten nennen?
        
        
          Ich habe mal darauf geachtet, was
        
        
          ich mache, wenn ich mich hungrig
        
        
          an einem Buffet bediene oder wenn
        
        
          ich hungrig in den Supermarkt gehe.
        
        
          Das sind sehr anschauliche Beispie-
        
        
          le dafür, was mit uns passiert, wenn
        
        
          ein Überangebot vorhanden ist. Wir
        
        
          Menschen können uns bei Überfluss
        
        
          nur schlecht selbst regulieren. In
        
        
          beiden Fällen habe ich viel mehr ge-
        
        
          nommen, als ich hätte essen können.
        
        
          Durch Achtsamkeit lerne ichmit die-
        
        
          sen Situationen bewusst umzugehen
        
        
          und mich von automatischen Hand-
        
        
          lungen zu befreien.
        
        
          Achtsamkeit ist momentan in aller Munde und gilt als Allzweckmittel gegen
        
        
          Stress. Im Kern geht es darum, eine Haltung zu entwickeln, die hilft, auch mit
        
        
          belastenden Situationen konstruktiv umzugehen. Dieser ursprünglich
        
        
          buddhistische Ansatz wird heute in vielen klinischen Kontexten angewandt.
        
        
          Am Universitätsklinikum Freiburg wird vor allem Achtsamkeitsforschung be-
        
        
          trieben. Professor Dr. Stefan Schmidt, Leiter der Forschungsgruppe Meditation,
        
        
          Achtsamkeit und Neurophysiologie an der Klinik für Psychosomatische Medizin
        
        
          und Psychotherapie, erklärt das Prinzip „Achtsamkeit“.
        
        
          „Als wär’s
        
        
          di e letzte Rosine“
        
        
          Eine einfache Achtsamkeitsübung ist es, eine
        
        
          Rosine so zu essen, als ob es Ihre erste oder auch
        
        
          Ihre letzte wäre. Alle Aufmerksamkeit neugierig
        
        
          auf diesen Moment – das ist Achtsamkeit
        
        
          Wie Achtsamkeit lehrt,
        
        
          bewusst im Hier und
        
        
          Jetzt zu sein
        
        
          Aktue lles Forschungsproj ekt
        
        
          In einer Pilotstudie konnte das Team von Professor Schmidt
        
        
          zeigen, dass Migränepatienten nach einem Achtsamkeitskurs
        
        
          viel weniger von ihren Migräneattacken beeinträchtigt waren
        
        
          und viel weniger Anfallsmedikation eingenommen haben als
        
        
          Patienten einer Kontrollgruppe. Auf dieser Basis wollen die For-
        
        
          scher nun ein umfassenderes spezifisches Achtsamkeitspro-
        
        
          gramm bei Migräne durchführen und in einer großen Studie
        
        
          in Berlin und Freiburg evaluieren. Das Ziel ist, Migränikern in
        
        
          Zukunft eine wirksame, nicht-medikamentöse Prophylaxe an-
        
        
          zubieten.
        
        
          Die Dinge so zu akzeptieren,
        
        
          wie sie gerade sind,
        
        
          bringt Zufriedenheit
        
        
          © eyetronic - Fotolia.com
        
        
          
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          01 | 2014
        
        
          01 | 2014
        
        
          
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