Das Magazin 1 - 2014 - page 4-5

Wie kann Achtsamkeit bei der Bewäl-
tigung von Alltagssituationen helfen?
Ich wurde kürzlich mit dem Auto
geblitzt, weil ich zu schnell gefahren
bin. Als ich bemerkte, dass ich mich
ärgerte, habe ich versucht, das, was
passiert ist, zu akzeptieren. An der
Situation konnte ich ja nichts mehr
ändern, und billiger wird es auch
nicht, wenn man sich noch stunden-
lang grämt. Ein Ziel der Achtsam-
keit ist also, hilfreichere Wege zu
finden, wie man mit etwas umgehen
kann. Kurz formuliert geht es dar-
um, Angenehmes loszulassen und
Unangenehmes zu akzeptieren. Das
klingt erst einmal paradox. Aber es
zeigt sich, dass wir Menschen sehr
oft Vorstellungen davon haben, wie
etwas sein soll, und wenn es dann so
ist, befriedigt es uns doch nicht oder
nur sehr kurzfristig. Die Dinge so
zu akzeptieren, wie sie gerade sind,
bringt Zufriedenheit.
Das klingt einfach, aber funktioniert
das bei jedem?
Man kann es erlernen, es ist eine
Übung. Einen Zugang bietet das
Achtsamkeitsprogramm „Mind-
fulness-Based Stress Reduction“
(MBSR), das vielfach angeboten
wird. Es kann einen ersten Einstieg
zum Umgang mit belastenden Situ-
ationen bieten. Während des Kur-
ses werden verschiedene Medita-
tionstechniken erlernt. Ziel ist es,
die achtsame Grundhaltung in der
Meditation zu üben
und dann in den
Alltag zu übertra-
gen. Achtsamkeit
ist ein permanenter
Übungsweg
und
ein ständiges Be-
wusstmachen von
„was bewirkt was
bei mir“. Im Ide-
alfall sollte jeden
Tag
mindestens
20 Minuten geübt
beziehungsweise meditiert werden.
Natürlich muss man eine Grundof-
fenheit dem Prinzip gegenüber mit-
bringen.
Wie kann der Erfolg von Achtsam-
keitstraining gemessen werden?
Man kann Teilnehmer an Acht-
samkeitstraining nach ihrem Stress
und psychischen Befinden befragen
und dies mit einer Kontrollgruppe
vergleichen. Es kommen aber auch
die Elektroenzephalografie (EEG)
genannte Hirnstrommessung oder
bildgebende Verfahren zum Einsatz.
Achtsamkeit wird neurobiologisch
und neurophysiologisch wirksam
und sichtbar. Solche Messungen ver-
leihen dem Achtsamkeitstraining
mehr Glaubwürdigkeit, was wichtig
ist, damit das Prinzip nicht belächelt
wird – was viele gerne tun. Das Ge-
hirn ist wie ein Muskel, an dem man
Trainingserfolge sehen kann, also
auch die Effekte von Achtsamkeits-
meditation.
Wie funktioniert Achtsamkeit im wis-
senschaftlichen Kontext?
Wir konzentrieren uns zur Zeit
darauf, wie durch Achtsamkeit Pa-
tienten mit chronischen Schmerzen
geholfen werden kann. In den Pro-
grammen lernen die Patienten vor al-
lem, wie sie mit Stress und den Folgen
von chronischen Schmerzen besser
umgehen können. Wir können durch
Achtsamkeitspraxis den Schmerz
selbst nur zum Teil reduzieren. Wich-
tiger ist aber, das aus dem Schmerz
resultierende Leiden, zum Beispiel
Verzweiflung, Angst und Depressi-
on, zu bewältigen. Die Frage ist, wie
kann ich imAlltag mit meiner Krank-
heit umgehen und trotzdem glück-
lich sein? Aber wir arbeiten auch an
einem Achtsamkeitsprogramm für
Behandler, also Ärzte und Pflegende.
Auch hier ist entscheidend, mit wel-
cher Haltung sie den Patienten be-
gegnen, es muss eine positive, heilsa-
me Haltung sein – eine den Patienten
zugewandte Haltung.
Herr Professor Schmidt, was ist Acht-
samkeit?
Achtsamkeit ist etwas, das man
erfährt, erlebt und praktiziert, des-
wegen ist es schwierig, darüber zu
sprechen. Über verliebt sein zu re-
den, ist ähnlich. Achtsamkeit ist
eine bestimmte Grundhaltung, mit
der ich dem gesamten Leben und
damit auch mir selbst gegenübertre-
te. Diese Haltung ist geprägt davon,
dass ich mir bewusst bin, was gera-
de geschieht und was ich gerade tue.
Das wird oft mit „im Hier und Jetzt
sein“ beschrieben. Dazu kommt, dass
man versucht, sich einer Wertung zu
enthalten und an alle Handlungen
und Erlebnisse mit einer offenen und
neugierigen Haltung herantritt. Das
hat auch viel mit einer unvoreinge-
nommenen Selbstbeobachtung zu
tun. Durch Achtsamkeit kann ich
dann erkennen, was eine förderliche
Selbsthaltung für mich ist, durch die
ich Leid, Stress und Schmerzenmini-
mieren kann.
Können Sie ein Beispiel für das Sich-
Selbst-Beobachten nennen?
Ich habe mal darauf geachtet, was
ich mache, wenn ich mich hungrig
an einem Buffet bediene oder wenn
ich hungrig in den Supermarkt gehe.
Das sind sehr anschauliche Beispie-
le dafür, was mit uns passiert, wenn
ein Überangebot vorhanden ist. Wir
Menschen können uns bei Überfluss
nur schlecht selbst regulieren. In
beiden Fällen habe ich viel mehr ge-
nommen, als ich hätte essen können.
Durch Achtsamkeit lerne ichmit die-
sen Situationen bewusst umzugehen
und mich von automatischen Hand-
lungen zu befreien.
Achtsamkeit ist momentan in aller Munde und gilt als Allzweckmittel gegen
Stress. Im Kern geht es darum, eine Haltung zu entwickeln, die hilft, auch mit
belastenden Situationen konstruktiv umzugehen. Dieser ursprünglich
buddhistische Ansatz wird heute in vielen klinischen Kontexten angewandt.
Am Universitätsklinikum Freiburg wird vor allem Achtsamkeitsforschung be-
trieben. Professor Dr. Stefan Schmidt, Leiter der Forschungsgruppe Meditation,
Achtsamkeit und Neurophysiologie an der Klinik für Psychosomatische Medizin
und Psychotherapie, erklärt das Prinzip „Achtsamkeit“.
„Als wär’s
di e letzte Rosine“
Eine einfache Achtsamkeitsübung ist es, eine
Rosine so zu essen, als ob es Ihre erste oder auch
Ihre letzte wäre. Alle Aufmerksamkeit neugierig
auf diesen Moment – das ist Achtsamkeit
Wie Achtsamkeit lehrt,
bewusst im Hier und
Jetzt zu sein
Aktue lles Forschungsproj ekt
In einer Pilotstudie konnte das Team von Professor Schmidt
zeigen, dass Migränepatienten nach einem Achtsamkeitskurs
viel weniger von ihren Migräneattacken beeinträchtigt waren
und viel weniger Anfallsmedikation eingenommen haben als
Patienten einer Kontrollgruppe. Auf dieser Basis wollen die For-
scher nun ein umfassenderes spezifisches Achtsamkeitspro-
gramm bei Migräne durchführen und in einer großen Studie
in Berlin und Freiburg evaluieren. Das Ziel ist, Migränikern in
Zukunft eine wirksame, nicht-medikamentöse Prophylaxe an-
zubieten.
Die Dinge so zu akzeptieren,
wie sie gerade sind,
bringt Zufriedenheit
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