Das Magazin 3 - 2013 - page 4-5

Dass ein ungesunder Lebensstil
krank machen kann, ist bekannt.
Doch der Grundstein für viele Er-
krankungen wird schon vor der
Geburt gelegt. Die Umstände der
Schwangerschaft können die Gene
des ungeborenen Kindes verändern
und so bestimmte Krankheiten be-
günstigen. Professor Dr. Roland
Hentschel, Leiter der Neonatologie
am Zentrum für Kinder- und Jugend-
medizin des Universitätsklinikums
Freiburg, erklärt, wie solche negati-
ven Prägungen mit Hilfe der moder-
nen Medizin auch nach der Geburt
noch beeinflusst werden können.
Augenfarbe, Haarfarbe, Größe
– diese und viele andere Merkmale
eines Menschen werden durch die
Gene bestimmt. Doch zum Erbgut
gehört nochmehr. Nicht nur die Gene
selbst sind wichtig, sondern auch so
genannte „epigenetische“ Verände-
rungen. Das sind chemische Grup-
pen, die an die DNA gehängt werden
und auf diese Weise Gene an- oder
abschalten können. „Während die
DNA-Sequenz starr und unbeweg-
lich ist, sind epigenetische Anhänge
in einem gewissen Rahmen dyna-
misch. Mit ihrer Hilfe kann der Or-
ganismus auf seine Umwelt reagie-
ren“, sagt Professor Hentschel. „Die
Natur hat dies so eingerichtet, damit
ein Kind im Mutterleib auf die Welt
vorbereitet werden kann, die es er-
wartet.“ Doch was ursprünglich ein
Vorteil war, kann heute zum Nach-
teil werden.
Über die Hälfte der Deutschen
ist übergewichtig, dies betrifft auch
etwa ein Drittel aller Schwangeren.
Zehn bis 20 Prozent der werden-
den Mütter leiden zudem an einem
Schwangerschaftsdiabetes. „Bei
übergewichtigen und zuckerkran-
ken Schwangeren herrscht ein
Überangebot an Nährstof-
fen, an das sich der Stoff-
wechsel des Kindes
unter anderem
durch
epigenetische Veränderungen an-
passt“, erklärt Hentschel. „Diese Kin-
der sind meist schon bei der Geburt
sehr groß und nehmen auch in den
Jahren danach überdurchschnittlich
viel zu. Sie leiden als Erwachsene
häufiger an Übergewicht, Diabetes,
Herz- und Gefäßkrankheiten.“
Deshalb sei es wichtig, dass
der Blutzuckerspiegel diabetischer
Schwangerer strenger eingestellt
wird, als man es noch vor einigen
Jahren für nötig hielt. „Eine Unter-
zuckerung kann für Mutter und Kind
sehr gefährlich sein, deshalb war
man lange vorsichtig bei der Einstel-
lung des Blutzuckers. Heute wissen
wir, dass ein dauerhaft zu hoher Zu-
ckergehalt im Blut ebenso schwere
und langfristige Schäden hervorru-
fen kann“, erklärt der Neonatologe.
Auf der anderen Seite stehen
Schwangere, deren Föten sehr
schlecht gedeihen – meist aus unbe-
kannter Ursache, gelegentlich aber
auch bei chronischen Erkrankun-
gen. Ihre Kinder sind gefährdet, weil
sie zu wenig Nährstoffe erhalten.
Hier entsteht die Situation einer
„Dürreperiode“. „Der Fötus lernt, die
wenigen Nährstoffe, die er erhält,
optimal auszunutzen, und von den
anderen Organen weg ins Gehirn
umzuleiten“, sagt Hentschel. Dann
aber werde das Kind in eine Welt des
Überflusses hineingeboren. „Diese
Kinder lagern später versteckte Fette
ein, besonders im
Bauchraum. Dies
führt dazu, dass sie
im Erwachsenen-
alter zwar meist
normalgewichtig
sind, aber trotzdem
überdurchschnitt-
lich
häufig
an
Diabetes, Herz- und
Gefäßerkrankun-
gen sowie Schlag-
anfällen leiden.“
Die Entwicklung von solchen im
Wachstum verzögerten Kindern
wird während der Schwangerschaft
durch die Pränatalmediziner streng
überwacht. Sobald der Fötus nicht
mehr gedeiht, ziehen sie die Neona-
tologen hinzu. „Je länger ein Kind in
einer Unterversorgung im Mutter-
leib verbleibt, desto höher ist das Ri-
siko für negative epigenetische Prä-
gungen“, sagt Hentschel. In solchen
Fällen kann es sein, dass das Kind in
den Händen der Spezialisten siche-
rer aufgehoben ist als im Mutterleib.
„In Extremfällen gedeiht das Kind so
schlecht, dass wir in
Absprache mit dem
Geburtshelfer für
eine vorzeitige Ent-
bindung plädieren.“
Auch nach der Ge-
burt könneman noch
Einfluss auf die Ent-
wicklung des Kindes nehmen, erklärt
Hentschel. Die richtige Ernäh-
rung könne in einem gewissen
Maße vor den Folgen einer Über-
oder Unterernährung imMutter-
leib schützen. „Am besten ist noch
immer Muttermilch“, sagt der Neo-
natologe. „Ist Stillen nicht möglich,
werden die untergewichtigen Kin-
der mit einer möglichst optimalen,
speziellen Frühgeborenennahrung
oder mit Zusätzen zur Muttermilch
ernährt.“ Dabei sei vor allem der
Eiweißgehalt wichtig. „Die reifen
Kinder erhalten heute eine Nahrung,
die weniger Eiweiß enthält als noch
vor einigen Jahren, die Frühgebo-
renen aber mehr.“ Früher konzent-
rierten sich Mediziner bei imWachs-
tum verzögerten Kindern auf eine
schnelle Gewichtszunahme. „Heute
wissen wir von dem dadurch gestei-
gerten Risiko für spätere Erkrankun-
gen und versuchen, der Nahrungszu-
sammensetzung des Fötus imUterus
möglichst nahe zu kommen.“
Neben der richtigen Ernährung
hat die moderne Medizin noch fort-
schrittlichere Lösungsansätze. Ein
Verfahren, das in Großbritannien be-
reits gängig ist, soll auch in Deutsch-
land bald Routine werden. Per
Magnetresonanztomografie (MRT)
werden gefährdete Neugeborene auf
ihre Fettpolster untersucht. „Wann
diese wo auftauchen, gibt einen
Aufschluss darüber, wie die Ernäh-
rung angepasst werden muss“, sagt
Hentschel. „Wissenschaftler suchen
zudem nach Medikamenten, die bei
Verdacht auf eine ungünstige feta-
le Programmierung die chemischen
Gruppen von der DNA ablösen kön-
nen“, erklärt Hentschel. „Aber bis
dahin ist es noch ein weiter Weg.“
Die Umstände der Schwangerschaft können
die Gene des ungeborenen Kindes verändern
und bestimmte Krankheiten begünstigen.
Optimale Hi lfe
schon vor
der Geburt
Die Natur hat dies so eingerichtet,
damit ein Kind imMutterleib auf
die Welt vorbereitet werden kann,
die es erwartet
Je länger ein Kind in einer
Unterversorgung imMutterleib
verbleibt, desto höher ist das
Risiko für negative
epigenetische Prägungen
Ernährung spielt groSSe Rolle
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