Das Magazin 1 - 2015 - page 18-19

Unter Schwindel leiden sehr viele Men-
schen. Um was es dabei wirklich geht,
erklärt Dr. Christoph Maurer, Facharzt
an der Klinik für Neurologie und Neuro-
physiologie des Universitätsklinikums
Freiburg.
Welche Bedeutung hat Schwindel im
ärztlichen Alltag?
Schwindel ist nach Kopfschmerz
das wichtigste Symptom, sowohl
in Notfallsituationen als auch beim
niedergelassenen Arzt. Gleichzeitig
aber gibt es relativ wenige Exper-
ten, die sich mit Schwindel wirklich
auskennen. Die Fehldiagnoserate ist
folglich sehr hoch.
Was genau ist Schwindel?
Unter Schwindel versteht jeder
etwas anderes, das macht ihn so
komplex. Aus HNO- oder neurolo-
gischer Sicht ist Schwindel eine
Störung des Gleichgewichtssinns.
Als mögliche Begleitsymptome kön-
nen unter anderem Übelkeit und
Erbrechen, Schwitzen, Kreislauf-
probleme oder Gedächtnisstörungen
auftreten.
Wer ist am häufigsten von Schwindel
betroffen?
Das hängt von der Ursache ab.
Die sogenannte vestibuläre Migräne
zum Beispiel betrifft eher junge Leu-
te oder gar Kinder. Entzündungen
des Gleichgewichtsnerven hinge-
gen, die sogenannten Neuronitiden,
kann man in jedemAlter bekommen,
Schwindel nach Schlaganfall wie-
derum haben natürlich eher ältere
Menschen.
Nimmt Schwindel mit dem Alter zu?
Der eigentliche systematische
Schwindel nimmt gar nicht unbe-
dingt im Alter zu. Was zunimmt,
sind Erkrankungen, die zu einer
Stand- und Gangunsicherheit füh-
ren. Ursächlich in Frage kommen
zum
Beispiel
Polyneuropathie,
schlechteres Sehvermögen oder Mi-
kroangiopathie in Folge von Diabe-
tes oder Bluthochdruck. Dies führt
zu Benommenheit und Gangunsi-
cherheit, was die Patienten häufig
als Schwindel beschreiben.
Welche Fälle behandeln Sie in der
Schwindelambulanz?
Zu uns kommen Patienten aus
demNotfallzentrum oder Menschen,
die ein chronisches Schwindelpro-
blem haben und bisher nicht ausrei-
chend behandelt werden konnten.
Am häufigsten sehen wir den La-
gerungsschwindel, der auch in der
Bevölkerung die am weitesten ver-
breitete Schwindelform ist. Oft kom-
men auch Patienten mit sogenann-
ten Vestibularisparoxysmen. Dabei
handelt es sich um Gefäßschlingen,
„SCHWINDEL
IST KOMPLEX“
INTERVIEW MIT DR. CHRISTOPH MAURER
die den Gesichtsnerv irritieren – ein
eher seltenes Krankheitsbild, das in
der Erstversorgung oft nicht erkannt
wird.
Wann sollte man mit Schwindel einen
Arzt aufsuchen?
Gerade bei akuten Schwindel-
attacken gilt: Je früher, desto besser,
möglichst sofort. Der Notarzt kann
beurteilen, ob Zeichen eines syste-
matischen Schwindels oder eher eine
Benommenheit bei Herzinsuffizienz
vorliegen oder ob gar ein Schlagan-
fall stattgefunden haben könnte.
Hinzu kommt, dass man typi-
sche klinische Zeichen eigentlich
nur in den ersten Momenten sehen
kann. Bei einem peripheren Gleich-
gewichtsausfall zum Beispiel ist das
häufigste Zeichen ein sogenannter
Spontannystagmus. Diese Augenbe-
wegungsstörung verschwindet aber
häufig bereits nachwenigenStunden.
Schwindelsymptome sollten also erns-
ter genommen werden?
Absolut. Wir sehen immer wieder
Patienten, deren Schwindel als Fol-
ge von zu viel Stress oder Belastung
eingeordnet wurde, die aber letztlich
doch eine organische Ursache haben.
Diese Menschen leben teilweise mo-
natelang mit den Symptomen, die
bei richtiger Diagnosestellung gut
behandelt werden könnten. Natür-
lich gibt es auch psychosomatischen
Schwindel; dieser sollte aber nur
nach ausreichender Abklärung diag-
nostiziert werden.
Wieso wird die richtige Diagnose oft
erst spät gestellt?
Schwindel ist keine definierte
Krankheit, sondern ein Symptom,
das verschiedene Ursachen haben
kann. Die Kunst ist, herauszufinden,
was hinter dem subjektiven Schwin-
delempfinden steckt.
Wir erarbeiten derzeit im Rahmen
eines EU-Projektes ein computerge-
stütztes System, das bei der Diagno-
sefindung helfen soll. Wir erhoffen
uns davon eine schnellere und effi-
zientere Behandlung bereits in der
Erstversorgung.
Was kann man bei wiederkehrendem
Schwindelgefühl tun?
Man kann sich ein paar einfache
Dinge klarmachen, die dem Arzt
sehr viel weiter helfen: Nimmt der
Schwindel zu beim Lagewechsel?
Tritt er in bestimmten Situationen
auf? Ebenso, was jetzt dank Smart-
phones zunehmend leichter wird,
könnte man bei akutem Schwindel
einfach mal die Augen filmen und so
einen eventuellen Spontannystag-
mus festhalten. Eben weil während
des Arztbesuchs häufig gerade kein
Schwindel besteht, ist die genaue
Krankengeschichte entscheidend.
„Schwindel ist keine definierte Krankheit,
sondern ein Symptom, das verschiedene
Ursachen haben kann. Die Kunst ist,
herauszufinden, was hinter dem subjektiven
Schwindelempfinden steckt“
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