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Peter Stobbe

Vita

„Wenn Modelle etwas Existierendes im kleinen Maßstab sind oder etwas Zukünftiges, etwa das Modell eines zu bauenden Hauses, dann sind Fotos kleinmaßstäbliche Modelle existierender Gegenstände.“

Dieser Gedanke aus Peter Stobbes „Dingstudien. Versuch einer Theorie der Visualität“, die seit 2001 vorbereitet wird, erscheint überraschend einfach, erweist sich jedoch als ein präzises Miniatur-System in der besten Denk-Tradition Ludwig Wittgensteins. Beiden ist die einfache Form weitreichender Gedanken-Modelle gemeinsam. Wenn Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen herausstellt, dass „jeder Satz ein Komplex von Namen ist, dem ein Komplex von Elementen entspricht“, dann legt er ein stichhaltiges Interpretationsmodell für jede Art von Kunstwerk vor. Die Beschreibung eines Gemäldes – vorausgesetzt sie gelingt uns in einem Satz – enthält die Elemente des Gemäldes wie beispielsweise Kompositionsteile, Motive, Koloristik, Perspektivität oder andere bildnerische Mittel als komplexes System. Es geht dann nur noch um die Kombination der artistischen Mittel, um Komplexität herzustellen, will sagen, um den „Bildtext“ lesen zu können.

Wie das? In einem gegenstandslosen Bild, dessen „Satz“ ich dechiffriert habe, ordne ich die Elemente zu einem Muster, das meinem Bedürfnis nach Schönheit entspricht – oder auch nicht. Mein ästhetisches Urteil wird entsprechend ausfallen. Die Parallelität zu Stobbes Gedanken ist offensichtlich. Wenn wir die Begriffe „Modelle“ durch „Bilder“ und „Fotos“ durch „Bildmotive“ ersetzen, dann offenbart sich die Schlüssigkeit des Systems: Tatsächlich verweisen Bildmotive auf existierende Gegenstände. Diese Aussage muss nicht im Widerspruch stehen zur abstrakten Malerei, insofern dem Farbbalken oder der zeichnerischen Schraffur eine eigene ästhetischen Realität oder Gegenständlichkeit – gemäß der „Autonomie künstlerischer Äußerungen“ – zugesprochen werden muss.

Bildmotive haben natürlich nur Geltung als Motive eines Bildes, die auf einen bestimmten Bereich der Realität verweisen oder eine eigene Realität behaupten. Dieser Kontext erschließt sich mir im Zusammensuchen und Ordnen der eingeschrieben Bildmotive. Ich gelange schließlich zu meinem komplexen Muster, lese es und entscheide, ob es angenehm oder unangenehm auf meine Sinne wirkt ...

Voilà! Da wären wir wieder bei Wittgenstein!

Mir ist bewusst, dass dieser theoretische Exkurs anstrengend ist. Doch ohne ihn würden wir uns der Person und dem Werk von Peter Stobbe nicht nähern können. Es wäre so, als ob man den Fisch betrachten wollte, ohne dabei ans Wasser zu denken ...

Ober- und unterirdische Treppen in einem Haus in der Ebene mit Formen für neue Zimmer

Peter Stobbes künstlerisches Tun entfaltet sich in einem Kräftefeld von Theorie, Poesie und bildnerischer Arbeit. Beginnen wir mit seinem schillernden Ausbildungsweg. Der 1951 im hessischen Büdingen geborene Stobbe studierte Psychologie und Philosophie sowie Slavistik, Anglistik und Linguistik an der Justus-Liebig-Universität in Giessen. Im Jahre 1980 promovierte er über Velimir Chlebnikov an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau. Ab 1981 ließ er sich als Künstler und Schriftsteller nieder, erhielt zwei Stipendien der Kunststiftung Baden-Württemberg und nahm im Jahre 1988 eine Gastprofessur an der Universität Wuppertal im Fachbereich Kommunikationsdesign in Vertretung der Professoren Siegfried Maser und Bazon Brock an. Seit dem Jahre 1990 unterrichtet er an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern. Im Jahre 2001 wurde ihm der Professoren-Titel verliehen.

Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen seien besonders das „Baubuch. Die Fliegenden Häuser“ von 1988 und „Nach Delft gehen“ von 2001 genannt. Die Texte sind lyrisch und sezierend zugleich. Viele Passagen im „Delft-Buch“ rühren einen an; andere überraschen durch einen lyrischen Ton oder durch eine präzise Beobachtungsgabe: „Der Sand auf dem Platz vor der Oude Kerk sieht so aus, als hätte ihn jemand frisch geharkt. Nicht einmal der Abdruck einer Katzenpfote ist zu sehen, kein Fetzen Papier, kein verlorenes Kleidungsstück und auch kein toter Vogel.“

Stobbe hat sich den „Landstreicher“ von Hieronymus Bosch zum Begleiter nach Delft auserkoren. Er nennt ihn Landlooper: „Im Mechelen ist heute Abend ein Fest, sagt er. Es kommen welche aus einer anderen Zeit.“

Es sind die Maler Vermeer, El Greco, Andy Warhol und andere, die sich dem Kunstkosmos des Landloopers, wenn man so will, dem Auge Hieronymus Boschs darbieten.

Das Buch liest sich leicht, man glaubt in der Geschichte zu schweben. Dennoch oder gerade deswegen hat der Autor zu einem unvergleichlichen philosophischen Höhenflug angesetzt. Das Buch zählt 124 Seiten – nicht mitgerechnet die vielen hundert Seiten, die sich aus den Zwischenzeilen errechnen lassen...

Im „Baubuch“ zirkulieren archaische Gedanken um den Sinn und die Funktion – um es ganz unverfänglich zu sagen – der Behausung: „Neue Zimmer. Sie dienen anderen Zwecken, welchen? Das Zimmer übernimmt den Schutz des Individuums vor den Unbilden der Witterung. Es ist ausgestattet mit den Kommunikationsformen des weitreichenden Ohres und des weitreichenden Mundes, sowie mit dem Umstand des zentrierten Auges.“

Skizzen, denen durchaus ein eigener artistischer Wert zuzumessen ist, erläutern die Aussagen. Die Akustik und die visuelle Verfügbarkeit eines Raumes rücken in den Mittelpunkt und werden als Grundlage des Wohnens ausgegeben. Man könnte fast sagen, dass die menschlichen Empfindungen, konkretisiert in den Rezeptions- und Artikulationsweisen der Wahrnehmung, eine Art Vor-Möblierung der Neuen Zimmer darstellen – vielleicht auch eine endgültige.

Die Gedanken Stobbes enthalten bildnerisches Material und zielen auf Gestaltung. Im Kontext seiner Theorie und Poesie erscheinen seine Wandinstallationen und Gemälde im Speisesaal des Herzzentrums als Ikonen eines umfassenden Raumerlebnisses. Es handelt sich eben nicht um „Bilder an der Wand“, sondern um einen artistischen Katalysator zur Intensivierung der Raumwahrnehmung: Ich kann die Arbeiten nur im Zusammenhang mit den Säulen, Tischen und Stühlen sehen. Diese statische Komponente wird aufgeweicht: Die Menschen im Raum, beschäftigt mit ihren Malzeiten oder mit ihren Gesprächspartnern, hinterlassen „Bewegungs-Spuren“, die ich in der Struktur der Gemälde wiederfinde. Mehr noch: Im Kontrast von kleinteiligen und großformatigen Objekten, ziselierten Schraffuren, Material-Elementen oder farblich sublim behandelten Oberflächen mag sich der Stimmungsgehalt des Raumes entfalten. Eine Rückwirkung auf die Betrachtenden, die Herzpatienten und ihre Angehörigen sowie auf das Klinikpersonal, bleibt sicherlich nicht aus. Das Ensemble wirkt auf die Emotionen der Menschen im Raum, die sich an Ort und Stelle neu definieren können – und sei es, dass sie für Augenblicke dem Klinikalltag, ihrer Krankheit und den damit verbundenen Befürchtungen enthoben sind.

Buchmeier und Stobbe, Wolhusen, 2002

Möglich, dass Peter Stobbe zusammen mit Hansjürg Buchmeier im August 2002 ein vergleichbares Konzept verfolgte. Es ging um die Gestaltung eines Durchgangs zwischen zwei Schulhaustrakten in der Anlage Berghof in Wolhusen bei Luzern. Entstanden ist eine neuartige Variante der Entfaltung des persönlichen Raumgefühls. Das Atmosphärische resultiert nicht aus der farblichen Behandlung der Wände – das ist die obligate koloristische Grundlage - sondern aus der Vernetzung von Bild und Text. Die miniaturhaften Wandwörter wie „Lichtbank“, „Zahlenstau“ oder „Heftdienst“ scheinen sich in der Weite der Farbfläche zu verstecken – sind aber unübersehbar und setzen wie ein kleiner ästhetischer Generator die Farbe in Bewegung. Die Wörter ziehen den Blick auf sich und zugleich auf die differenzierte Behandlung der Wandpartie. Rinnspuren und wechselnde Transparenz der Farben, ikonische Fragmente und malerische Brüche aus der linealisierten Direttissima fallen auf. Die vorbeigehenden Schüler identifizieren sich mit dem Text und lernen – so ganz nebenbei – den Farbcode und die in ihm chiffrierten Ikonen zu entziffern, so dass sie bald in der Lage sind, ein persönliches Raumgefühl zu entwickeln.

Das Bild an seinen Fingern erkennen 2-teilig, Öl/Lw, 90x180 cm, 1998

Abgesehen von dem zuletzt genannten Projekt stammen die Arbeiten im Herzzentrum aus den Jahren 1990 und 1991. Was hat sich seit dieser Zeit im Stobbe-Atelier getan? Verfolgen wir das Kontrast-Kalkül der Speisesaal-Installationen. Aus dem Jahre 1998 stammt eine großformatige zweiteilige Arbeit mit dem Titel „Das Bild an seinen Fingern erkennen“. Es setzt sich zusammen aus zwei gleich großen Tafeln, die eine monochrom, die andere farbig. Man wird gewissermaßen aufgefordert, „dazwischenzuschauen“, die monochrome Figuration zu kolorieren und die Farbkomposition zu reduzieren. Die Arbeit funktioniert als Spiegel meiner Wahrnehmung: Um das Bild zu sehen, muss ich es mit meinen Augen „malen“! Oder anders: Nicht die Leinwand ist der Malgrund, sondern die Netzhaut meines Auges. Ähnlich funktioniert das „Bildwerk I“ von 1999, eine großformatige Arbeit, die in ihrer Bildstruktur Zwischenräume provoziert. Die strenge Parallelität der Linien grenzt unvermittelt an einen dunklen Grund, der eine kompakte und nur wenig gegliederte Form trägt. Eigentlich ist es dieses raumgreifende Bilddetail, das zu betrachten wir uns aufgefordert fühlen, doch werden die Augen immer wieder ab- und auf die gestreiften Randzonen hingelenkt. Die Visualierung dieses in sich verschachtelten abstrakten Doppelporträts fällt anfangs schwer. Doch haben wir uns einmal auf die artistische Rhetorik eingelassen, verspüren wir, dass wir dabei sind, die Grammatik einer neuen Bildsprache zu erfahren. Es lohnt sich, diese Seh-Arbeit zu leisten, da wir, ausgestattet mit einem neuen Wahrnehmungs-Code, die jüngsten Arbeiten nicht nur „lesen“, sondern im höchsten Maße auch goutieren können.

Bildwerk I, Lack und Acryl auf Holz, 230x160 cm, 1999

Japanische Hütte, Öl/Lw, 140x120 cm, 2001

Die „Japanische Hütte“ bietet sich dem Auge wie ein Dreisterne-Menü dar: Die klare Balkengliederung stimmt einen auf das Festmahl ein. Erwartungsvoll möchte man über die wie aus Samt gefügten monochromen Flächen streichen, um genüsslich die goldbraunen Teilchen auf der Zunge zergehen zu lassen ... Augenschmaus! Stobbe ist ein Meister der Synästhesie. Für ihn offenbart sich die Visualisierung des ästhetischen Materials in der Aktivierung weiterer Sinnesempfindungen: Das Auge reizt den Gaumen und weckt Begehrlichkeiten in den Fingerspitzen.

Vielleicht sind aus diesem Grunde auch die „Kunstsätze“ entstanden. Es handelt sich hier um gesprochene Texte, um kurze und prägnante Sätze, die zusammen mit Hansjürg Buchmeier im Jahre 2002 als CD produziert worden sind. Das gesprochene Wort agiert und belebt den Gedanken. Als akustisches Signal findet es direkten Zugang zum Bewusstsein, ohne durch ein Schriftbild gefiltert worden zu sein. Die Botschaft ist eindeutig: Wenn es möglich ist, ein Bild zu „lesen“, warum sollte man es nicht “hören”. Die visuellen Zeichen eines ikonografischen Codes sind der Wahrnehmung durchaus auch akustisch zuzuführen.Die Ikonografie Peter Stobbes, die symbolisch, allegorisch oder metaphorisch besetzten Bildzeichen, erfahren in seiner gerade in Arbeit befindlichen „Theorie der Visualität“ (2002) eine Systematisierung. Dabei geht es unter anderem um eine Differenzierung des schöpferischen Vorgangs. So paradox es klingen mag: Die Unterschiede zwischen Text und Bild bringen Gemeinsamkeiten hervor: „Das Schreiben ist unübersichtlicher als Malen. Man ist recht schnell im „Bilde“, wenn man ein Gemälde betrachtet. Bei längeren Texten ist das nicht möglich. Die Rezeption funktioniert anders. Ein längerer Text hat etwas von der Wühlarbeit des blinden Maulwurfs. Man muss sich irgendwie „durchkämpfen“, es dauert länger als Bilder anschauen, obwohl ein Text, denke ich im Moment, auch eine Art Gemälde ist, nur eben mit einem ganz kleinen Pinsel aufgetragen, was viel Geduld erfordert. Das Malen, mein Malen zumindest, habe ich immer als sehr ungeduldig empfunden. Ich konnte kaum erwarten, bis das Bild endlich fertig war. Beim Schreiben ist es jetzt so, dass ich die Dichtigkeit des Malens lernen muss, um Sätze, Abschnitte und Kapitel zu strecken.“