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Eine Operation gegen Stimmen im Kopf

Neurologie

(30.06.2016) Eigentlich führt der Patient ein ganz normales Leben. Aber regelmäßig hört er Schreie und Musik, die sonst keiner hört. Mit einer präzise geplanten Gehirn-Operation gelingt es Professor Andreas Schulze-Bonhage, den Patienten zu heilen.

Markus F.* ist Mitte 20, studiert ein geisteswissenschaftliches Fach und hat ein etwas zurückhaltendes Wesen. Doch seit er sechs Jahre alt war, hatte er mehrmals täglich Halluzinationen: mal schien die Stimme seines Gesprächspartners so laut zu werden, dass es weh tat; mal klang sie wütend und manchmal wie ein Gesang. Nach zehn bis 15 Sekunden war alles vorbei.

„Die Störung belastete den Patienten sehr, obwohl er sehr genau wusste, dass die Halluzinationen nicht wirklich sind –im Gegensatz etwa zu Patienten mit Schizophrenie“, sagt der Epileptologe Professor Dr. Andreas Schulze-Bonhage, Abteilungsleiter des Epilepsiezentrums am Universitätsklinikum Freiburg. Weil Betroffene oft als psychisch krank angesehen werden, verschweigen sie ihre Probleme häufig.

Auch dem Freiburger Epileptologen berichtete der Patient erst auf Nachfrage über seine Halluzinationen. Denn der Grund seines Termins im Freiburger Epilepsiezentrum war eine immer stärker werdende Epilepsie. Sechs Jahre zuvor, im Alter von 20 Jahren, hatte Markus F. erstmals einen großen epileptischen Anfall erlitten. Mittlerweile traten pro Monat bereits zwei bis drei Anfälle auf, meist im Schlaf.

Etwa jeder Hundertste erkrankt an Epilepsie

Epilepsie ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen. Jeder Zehnte erleidet einmal im Leben einen großen epileptischen Anfall. Bei etwa einem von hundert Menschen treten die Anfälle wiederholt auf. Dann spricht man von Epilepsie. Bei einem epileptischen Anfall verliert der Betroffene das Bewusstsein und die Muskulatur spannt sich unwillkürlich an, oft in Kombination mit einem Schrei zu Beginn des Anfalls. Nach einigen Sekunden oder Minuten fällt der Betroffene in einen tiefen Schlaf oder erholt sich langsam bei zurückkehrendem Bewusstsein. Grund dafür ist eine Störung der Hirnaktivität, bei der zwei Formen unterschieden werden: Ist von Beginn an das gesamte Gehirn betroffen, spricht man von einem generalisierten Anfall. Geht der Anfall von einer bestimmten Gehirnregion aus, einem sogenannten Anfallsherd, bezeichnet man das als fokalen Anfall.

Wirken Medikamente nicht, kann eine Operation helfen

Eine medikamentöse Therapie, die Markus F. in seiner Heimat durchgeführt hatte, musste wegen eines drohenden Leberversagens abgebrochen werden. Andere Medikamente wirkten nicht. „Jeder Dritte Epilepsie-Patient spricht nicht auf Medikamente an. Aber gerade einmal fünf bis zehn Prozent lassen sich operieren. Dabei könnten wir viel mehr Menschen helfen. Denn gerade fokale Anfallsherde können wir heutzutage oft sehr gut identifizieren und ohne Nachteile für die Patienten operativ entfernen“, sagt der Epileptologe.

Für ein ambulantes Beratungsgespräch kam Markus F. viele hundert Kilometer aus Norddeutschland nach Freiburg – und wusste noch nicht, dass sich dadurch beide seiner Probleme lösen sollten. Zunächst führten die Ärzte um Professor Schulze-Bonhage bei dem Patienten ein Elektroenzephalogramm durch, kurz EEG. Dabei kann mittels Elektroden auf der Kopfhaut die Gehirnaktivität vor und während eines Anfalls gemessen werden: „Im Bereich der Hörrinde, die akustische Reize verarbeitet, fanden wir eine für Epilepsien typische Gehirnaktivität. Damit hatten wir erstmals eine Bestätigung für den Verdacht, dass die beiden Phänomene zusammenhängen könnten“, sagt Professor Schulze-Bonhage.

Der Anfallsherd wird exakt eingegrenzt und dann entfernt

Um den betroffenen Bereich noch besser eingrenzen zu können, implantierten die Freiburger Ärzte dem Patienten für wenige Tage direkt in die verdächtige Hirnregion Elektroden. Dadurch konnten sie einen 1,5 Quadratzentimeter großen Bereich in der Hörrinde eingrenzen, der die Anfälle auslöste.

In einer zweistündigen Operation wurde das verdächtige Hirngewebe entfernt. „Weil die Hörrinde in beiden Hirnhälften angelegt ist und Ohren jeweils mit beiden Seiten verschaltet sind, hat der Patient durch die Entfernung keine Nachteile“, erklärt Professor Schulze-Bonhage. „Die Chance, dass er dauerhaft anfallsfrei bleibt, liegt bei 70 bis 80 Prozent.“

Mit der Operation hören nicht nur die großen epileptischen Anfälle auf, sondern auch die akustischen Halluzinationen. „Damit bestätigte sich, dass es sich bei den Halluzinationen eigentlich auch um kleine epileptische Anfälle gehandelt hat, sogenannte Auren“, sagt Professor Schulze-Bonhage.

Sensorische Auren sind keine Seltenheit

Unter derartigen Halluzinationen, sogenannte sensorische Auren, leiden in Deutschland etwa 80.000 Menschen. Sie können alle Sinneseindrücke betreffen: Lichtblitze, Geruchs- und Geschmackswahrnehmungen, oder das Gefühl, aufstoßen zu müssen sind keine Seltenheit. Leichte Anfälle können aber auch andere Formen annehmen: manche Menschen haben Lachanfälle, Angstzustände oder Herzrasen. „Eine Aura ist nichts anderes als ein kleiner epileptischer Anfall. Oft werden sie im Laufe der Zeit stärker. Wenn sie erkannt werden, können sie aber in vielen Fällen gut behandelt werden“, sagt Professor Schulze-Bonhage. In besonders schwierigen Fällen ist dafür eine Operation nötig.

Markus F. geht es einen Monat nach der Operation sehr gut. Bislang ist er völlig anfallsfrei und kann sich voll und ganz seinem Studium widmen.

*Name von der Redaktion geändert

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